Geschichte einer Sprengstofffabrik.
230
Hektar
Nahe der Nordhessischen Kleinstadt Hessisch Lichtenau (ca. 30 km von Kassel entfernt) befinden sich die Reste der im Dritten Reich errichteten „Fabrik Hessisch Lichtenau zur Verwertung chemischer Erzeugnisse“. Diese Fabrik, die früher den Tarnnamen Friedland trug, war die zweitgrößte Sprengstofffabrik mit angeschlossenen Füllstellen im damaligen Deutschland, nur der aus zwei Werken bestehende Rüstungsstandort Allendorf war größer. Ein Rundgang in Hirschhagen ist sicher für jeden, der sich ein wenig für solche Sachen interessiert ein Erlebnis, an jeder Ecke gibt es was zu sehen.
Die unzähligen Gebäude auf dem über 230 Hektar großen Areal strahlen eine düster-morbide, zum Teil eigenartige Aura aus. Ohne Rücksicht auf Mensch oder Natur wurde unter zum Teil heutzutage fast unvorstellbaren Bedingungen Sprengstoff produziert und dieser in Granaten, Minen, Bomben und Zündern verfüllt. Das Werk wurde, obwohl es Luftbilder der RAF aus dem Jahr 1943 gibt, nicht angegriffen. Eine Zerstörung der Säurespaltanlage hätte die Sprengstoffproduktion in vielen anderen Werken stark gestört, denn nur wenige der 27 größeren Sprengstofffabriken / Munitionsanstalten verfügten über solch eine Anlage und mußten beliefert werden.
In der Nachkriegszeit siedelten sich einige mittelständige und kleine Betriebe in dem jetzt als Gewerbegebiet ausgewiesenen Hirschhagen an, auch wurden einige Gebäude als Wohnhäuser umgebaut, was diesen ein oft skurriles Aussehen gibt. Bei vielen, der in Hirschhagen ansässigen Betriebe, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass man keine Öffentlichkeit wünscht, Scheinwerfer und Wachhunde sind weit verbreitet in Hirschhagen.
Schon 1933 kurz nach der Machtübernahme durch die NSDAP begannen die Planungen für neue Rüstungsbetriebe im Deutschen Reich. Im Industriebau renomierte Ingenieurbüros wurden damit beauftragt, Vorlagen und Planungen für Rüstungsbetriebe zu entwickeln. Eine Vorgabe war, dass ein gewisser Standard geschaffen werden sollte, der bei allen kommenden Planungen wieder verwendet werden konnte. Zu den Grosskonzernen, die in die Planung miteinbezogen wurden, gehörten z.B. die IG Farben, Krupp, Flick, AEG und Siemens – sie alle gehörten zu den grössten Geldgebern der NSDAP und wurden jetzt belohnt mit riesigen Aufträgen im Zuge der Aufrüstung.
Mit Hilfe der D.A.G. (Dynamit-Aktien-Gesellschaft) suchte das OKH (Oberkommando des Heeres) geeignete Standorte für die grossen Sprengstoff/Munitionswerke. Voraussetzungen waren: Keine unmittelbare Nähe zu einer Grossstadt, dichter Waldbewuchs zur Tarnung, gute Anbindungsmöglichkeiten an Strasse und Bahn, Deckung des enormen Wasserbedarfs, Deckung des hohen Energiebedarfs, sowie die Möglichkeit der Region eine hohe Anzahl Arbeitskräfte zu entziehen ohne andere kriegswichtige Industrien zu belasten.
In der Nähe der nordhessischen Kleinstadt Hessisch Lichtenau wurde ein Standort gefunden, der wie es schien alle Vorgaben erfüllte, bis auf die Anbindung an eine Wasserstrasse zur leichteren Be- und Ablieferung mengenintensiver Güter. Die mit dichten Mischwald bestandenen grossflächigen Erhebungen des Kaufunger-Meissner Waldes boten beste Tarnmöglichkeiten, die umliegende Infrastruktur bestehend aus kleinbäuerlichen- und handwerklichen Betrieben erlaubte den Abzug grosser Mengen an Arbeitskräften. Eine leichte Anbindung an das Strassen- und Bahnnetz, große Wasserreserven und zwei in direkter Nähe liegende Braunkohlegruben für die Energieversorgung machten das Areal fast perfekt. Einzig das Fehlen eines grösseren Fliessgewässers war ein Manko, allerdings erachtete man das im Tal fliessende Gewässer (mittleres Gewässer) Losse für ausreichend um die bei der Produktion anfallenden Abwässer abzutransportieren (was sich später als ein grosser Fehler erweisen sollte).
Von den insgesamt 27 Sprengstofffabriken war das Werk Hess. Lichtenau das zweite was seinen Betrieb aufnahm. Während der gesamten Betriebdauer praktisch bis zum letzten Tag wurde das Werk erweitert, bis zu 2000 Bauarbeiter und mehr als 1000 Arbeitsdienstmänner waren permanent im Einsatz. Bis Kriegsende wurden 399 Gebäude auf dem 233 Hektar grossem Gelände errichtet. Das umzäunte Gelände war von einem weitverzweigten Straßennetz durchzogen und besaß einen eigenen Gleisanschluß (35 km Gleislänge davon 17 km Innerbetrieblich, eigener Bahnhof) sowie eine Seilbahn zur Zeche Hirschberg. Es gab neben den Produktionsanlagen Lagerstätten, Laboratorien, Sozialgebäude, Büros, Werkstätten usw.. 1941 fand eine Erweiterung außerhalb des Werksgeländes statt. In Eschenstruth wurde die Fabrik der Hansa Schwerweberei AG beschlagnahmt und von der D.A.G. als Spezialmaschinenbaufabrik, Werkzeugmacherei und Reparaturbetrieb eingerichtet, von hier wurden zum Teil auch andere Werke beliefert.
Zwei eigene Kraftwerke, die Gebäudegruppen 501-506 und 521-526, versorgten das gesamte Werk mit Elektrizität; aus Sicherheitsgründen lagen sie unterirdisch und weit voneinander entfernt. In den Gebäuden 501 und 521 standen je zwei Hochdruck-Kessel sowie zahlreiche Pumpen für Kesselspeisewasser. Jeder Kessel erzeugte pro Stunde 10 Tonnen Dampf unter 50 atü Druck. Im Gebäude 502 wandelten zwei Gegendruckturbinen mit Leistungen von 1500 bzw. 2800 kW/h den Dampf in Elektrizität um. Die Turbinen im zweiten Kraftwerk hatten eine Leistung von je 1500 kW/h.
Bis 1942 war die Versorgung der Kraftwerke mit Kohle ein immer wiederkehrendes Problem, teilweise über 200 Waggons beladen mit Rohstoffen, Kohle und Baumaterial oder den abzutransportierenden Werkserzeugnissen (Chemikalien, Sprengstoff, Munition) verstopften die Gleisanlage vollkommen. Erst 1942 nach der Fertigstellung des Kohlehochbunkers (Nr.589), der über eine Seilbahn mit dem Abbaugebiet Hirschberg direkt verbunden war, entspannte sich die Versorgungslage des Werkes. In fünf großen Schütten wurde die Kohle im Hochbunker (Abb. A2.2) gelagert und je nach Bedarf mit der Werksbahn verteilt. Die beiden Großkraftwerke verfügten über kleinere Vorratsbunker.
Anfang 1943 ging ein drittes Kesselhaus (Abb. A2.3), das Gebäude 550, in Betrieb. Es wurde über ein Förderband direkt aus dem Kohlehochbunker (Nr.589), mit Kohle versorgt. Drei Steilrohrkessel erzeugten im neuen Kraftwerk 9 Tonnen Dampf unter 25 atü Druck, die eine Gegendruckturbine mit einer Leistung von 1200 kW/h speisten. Der Dampf wurde von den Kesselhäusern in ein oberirdisches Dampfleitungsnetz eingespeist, dass die Werksgebäude mit Wärme und die Fabrikationsgebäude versorgte.
Auf dem Werksgelände waren über 20 Trafostationen verteilt, die die erzeugten 6000 Volt in die benötigte Betriebsspannung von 380 oder 220 Volt umspannten. Jedes Gebäude war mindesten von zwei, oft sogar von vier Seiten an das maschenartig verlegte Stromnetz angeschlossen. Zur Notstromversorgung standen in den Kraftwerken und in seperaten Bunkern Dieselaggregate, die bestimmte Hauptgebäude im Notfall mit Strom versorgen konnten. Weiterhin gab es auch eine Fremdübernahmestation, die im Normalbetrieb den überflüssigen Strom ins öffentliche Netz einspeiste.
Zur Herstellung von Trinitrotoluol (TNT), Trinitrophenol (Pikrinsäure) und Oleum werden sehr große Mengen an Wasser benötigt.
Das Trinkwasser wurde aus fünf Tiefbrunnen entlang der Losse bei Helsa gefördert. Nachdem es eine Kiesfilteranlage und eine Chlorrierungsanlage durchlaufen hatte, wurde es vom Pumpwerk Helsa, am Ende des Hergesbachtals (Nr. 513), in eine Kammer des Hochbehälters (Nr. 514/515) auf dem Rohrberg gedrückt. Aus dieser Kammer mit 500 m³ wurde das Versorgungsnetz I gespeist.
Das Brauchwasser wurde dem Hergesbach und dem Wedemannsbach mit Hilfe von zwei Vorpumpwerken entnommen. Es durchlief mehrere Filter und wurde in die anderen drei Kammern des Hochbehälters gedrückt. Diese fassten zusammen 2500 m³ und speisten Versorgungsnetz II. Ein drittes Netz versorgte die Großverbraucher. Es wurde aus dem 1940 angelegen Kühlteich gespeist. Das Wasser aus dem Kühlteich wurde in Gebäude 520 (Abb. A2.4 und A2.5) aufbereitet und in das Versorgungsnetz III gedrückt.
In den verschiedenen Stufen der Sprengstoffproduktion entstanden sehr saure Abwässer. Diese Abwässer mußten getrennt abgeleitet werden, um chemische Reaktionen, vor allem Explosionen zu verhindern. Es wurden fünf verschiedene Kanalisationsnetze angelegt.
– Ein Kanalisationsystem leitete das Regenwasser und nur leicht verschmutzte Abwässer in den Kühlteich.
– Ein Kanalisationssystem leitete stark verschmutztes Mischabwässer ab.
– Die drei weiteren Kanalisationssysteme dienten zur getrennten Abführung von Produktionabwässern.
Bis zur Fertigstellung der Neutralisation (Kläranlage) im Jahre 1941 (Nr. 217, 317, 318) gelangten die Produktionsabwässer vollkommen ungeklärt in die Losse, dies geschah am Bahnwärterhäuschen Fürstenhagen, Steinbach oberhalb Fürstenhagen und dem Rohrgraben unterhalb von Waldhof.
Ab 1940 konnte ein Teil der ungeklärten Abwässer durch einen 22 km langen Kanal nach Kassel direkt in die Fulda eingeleitet werden. Mit der Verlegung der Mündung des Rohrgrabens und dem Bau der Kaskaden sollte die Schadstoffkonzentration im oberen Teil der Losse verringert werden.
Die Dynamit-Aktien-Gesellschaft, vormals Alfred Nobel & Co. (D.A.G.), Troisdorf hatte das Werk im Auftrag des Oberkommandos des Heeres (OKH) geplant.
Nach Fertigstellung einzelner Bauabschnitte durch die D.A.G. wurden diese durch das OKH abgenommen und der Bauherrin/Eigentümerin Montan Industriewerke GmbH (MONTAN) übergeben. Die 1916 gegründete Firma MONTAN wurde 1934 im Auftrag des OKH durch hohe Beamte erworben um treuhänderische Aufgaben bei der Verwaltung, Vermietung und Verpachtung reichseigener Anlagen zu übernehmen.
Betrieben wurde das Werk von einer 100%igen Tochter der D.A.G. mit dem Namen Fabrik Hess. Lichtenau zur Verwertung chemischer Erzeugnisse (Verwert-Chemie). Offiziel verpachtete die reicheigene MONTAN das Werk an die Verwert-Chemie. Das bedeutet, dass die gesamte Fabrik der Montan gehörte und damit Reichseigentum war. Das Umlaufsvermögen gehörte hingegen der Verwert-Chemie. Die D.A.G. stellte nach außen hin nur ihr Wissen in der Sprengstoffproduktion zur Verfügung.
Bei Kriegsende gehörte jedoch etwa ein Viertel des gesamten Werks direkt der D.A.G., da ab 1943 keine offizielle Übergabe mehr von der D.A.G., die die Anlagen neu errichtete an MONTAN erfolgte.
Die Gewinne durch die Produktion von Chemikalien zur Herstellung von Sprengstoff, durch die Herstellung von Sprengstoff und Munition waren enorm. Diese Gewinne gingen an die Verwert-Chemie als Betreiberin des Werks und damit an die 100% Besitzerin der Verwert-Chemie die D.A.G.. Die Pachtgebühren der Verwert-Chemie an die MONTAN und damit an das Reich deckten gerade die Zahlungen der MONTAN an die D.A.G. für die zur Verfügung gestellten Arbeitsmethoden und Erfahrungen. Das bedeutet der Rüstungsproduzent D.A.G. hat nicht nur einen Sprengstofffabrik erbaut und damit viel Geld verdient sondern diese auch noch durch eine Tochterfirma praktisch umsonst gepachtet. Darüber hinaus wurden der Verwert-Chemie billige Arbeitskräfte in Form von Zwangsarbeitern zur Verfügung gestellt, ab 1944 wurden zudem die Chemikalien zur Sprengstoffherstellung kostenlos zur Verfügung gestellt.
Das von außen undurchschaubare Konstrukt aus Auftraggeber, Betreiber, Erbauer und Besitzer hat bis heute rechtliche Folgen. Da 1945 für die Verwert-Chemie ein Liquidationsverfahren eingeleitet wurde, gibt es heute keinen rechtlichen Nachfolger mehr der für die Folgeschäden der Produktion aufkommt. Die damalige Muttergesellschaft, die heutige Dynamit Nobel AG, gehört inzwischen wieder zu den größten Munitionproduzenten der Welt.
In der Fabrik Hess.Lichtenau zur Verwertung chemischer Erzeugnisse wurden zwei Arten Sprengstoff hergestellt und verarbeitet, ein dritter wurde nur verarbeitet. Solange keine fertigen Betriebsgruppen existierten, wurden alle Zwischen- und Halbprodukte von anderen Fabriken bezogen bzw. an diese zur weiteren Verarbeitung verschickt. Die zur Produktkennzeichnung verwendete Abkürzung für das Werk war hlu.
Zur Herstellung einer Tonne TNT wurden folgende Chemikalien benötigt:
Gleichzeitig mußten für die Produktion bereitgestellt werden:
Die Produktion erfolgt in drei Stufen:
Toluol | -> | Mononitrotoluol | kurz Mono |
Mono | -> | Binitrotoluol | kurz Bi |
Bi | -> | Trinitrotoluol | kurz Tri |
Den Kern der TNT-Produktion bildeten die drei Nitrieranlagen. In den Nitrierhäusern befanden sich große doppelwandigeRührkessel, jeder war mehrere Meter in den Untergrund eingelassen. Ein Rührlöffel von ca. 1×1 Meter Größe hielt den Sprengstoffbrei in Bewegung und vermischte so die Stoffe miteinander. Prozeßdampf oder Kühlwasser zwischen Innen- und Außenkessel sorgte für die gerade notwendige Temperatur.
Das nach den o.g. Produktionschritten gewonnene Tri mußte jetzt noch gewaschen werden. Im Waschhaus I wurde es zuerst mehrmals mit heißen Wasser, dann mit einer Bikarbonatlösung und einer Natriumsulfitlösung und anschließend wieder einige Male mit heißem Wasser gewaschen. Im Waschhaus II erfolgte eine aufwendige Sulfitwäsche um auch die letzten Verunreinigungen und Säurereste in dem Tri wasserlöslich zu machen und anschließend wieder mit heißem Wasser auszuwaschen.
Das so gefertigte TNT wurde danach im Gebäude 310 im Vakuum getrocknet und anschließend im Gebäude 311 granuliert. Der fertige Sprengstoff wurde im Bunker 314 in Kisten zu je 50 kg abgepackt, gelagert und zum Teil verschickt.
Im Jahr 1942/43 wurden ca. 30.000 Tonnen TNT produziert.Die Waschwässer wurden in den Waschhäusern unter ständigemRühren abgekühlt und in Absetzbehälter gedrückt in denen sich Schwebeteilchen ablagerten. Erst anschließend wurde das gesättigte, intensiv rot gefärbte Waschwasser in das Kanalisationsnetz geleitet.
Die bei der TNT-Produktion anfallenden Abfallsäuren wurden in Kesseln (z.B. Gebäude 312) zwischengelagert und anschließend in den Gebäuden 313 und 343 denitriert. Dabei fiel verdünnte Salpetersäure an, die in den gleichen Gebäuden wieder zu hochkonzentrierter Salpetersäure verarbeitet wurde. Die bei der Denitrierung anfallende 70% Schwefelsäure wurde in Gebäude 316 auf 96% konzentriert und in das Spaltgebäude 054 abgegeben. Dort wurde die Säure verdampft und in SO² gespalten. Das anfallende Gas wurde nach Reinigung und Trocknung in der Kontaktanlage zu SO³ verarbeitet. SO³ bildet mit der hochkonzentrierten Schwefelsäure Oleum, das in den Tri-Betrieb zurückgeliefert wurde.
Die Betriebsgruppe zur Herstellung von TNT:
Toluol-Lager | -> | 301 |
Säuremischanlage | -> | 302 |
Mononitrieranlage | -> | 334 |
Mono-Lager | -> | 335 |
Binitrierung | -> | 304/305 |
Bi-Lager | -> | 306 |
Trinitrierung | -> | 307 |
Waschhaus I | -> | 308 |
Waschhaus II | -> | 309 |
Trocknung | -> | 310 |
Granulierung | -> | 311 |
Lager / Versand | -> | 314 |
Tri-Lager | -> | 401/402 |
Als zweiter Sprengstoff wurde ab November 1938 Trinitrophenol (Pikrin oder Pikrinsäure) im Werk Hess. Lichtenau produziert. Pikrinsäure ensteht durch Erhitzen von Salpeter und Phenol. Für die Herstellung standen zwei Anlagen mit einer mittleren monatlichen Kapazität von 173 Tonnen zur Verfügung, damit war das Werk Hess. Lichtenau die größte Produktionsstätte von Pikrin in Deutschland.
Als militärischer Sprengstoff wurde Pikrinsäure im zweiten Weltkrieg im deutschen Heer nur noch begrenzt verwendet, teilweise wurde sie noch zur Herstellung von Pioniermunition (Bohrpatronen und 200g Sprengkörper) und von Übertragungsladungen für grössere Bomben benutzt. Ein Nachteil der Pikrinsäure ist die Neigung zur Bildung stossempfindlicher Pikrate bei Einfüllung in nicht geschützte Metallhülsen. In ihrer früher üblichen Verwendung zu Zündanlagen, detonierenden Zündschnüren und Sprengkapseln wurde sie durch die modernen Sprengstoffe Hexogen und Nitropenta abgelöst.
Zur Herstellung einer Tonne Pikrin wurden folgende Chemikalien benötigt:
– 885 kg Dinitrophenol
– 2385 kg Abfallsäure
des weiteren
– Dampf für die Temperierung
– Kühlwasser
– Wasser für die Wäsche
Es fällt Abfallsäure an, die mit Pikrinsäure und weiteren Reaktionsnebenprodukten verunreinigt ist. Ein Teil der Abfallsäure wurde für die nächste Nitrierung eingesetzt, der Rest durch Konzentration regeneriert.
In einem der gußeisernen, temperierbaren Kessel mit Rührwerk wurden 2.092 kg Abfallsäure aus der vorherigen Nitrierung auf 50 °C erwärmt. Innerhalb von 30 Minuten wurden nach und nach 750 kg Dinitrophenol zugegeben. Der nächste Schritt war das man über einen Zeitraum von 2,5 Stunden eine Mischsäure aus 355 kg 86 %iger Salpetersäure und 710 kg 20 %igem Oleum zulaufen lies. Die Temperatur mußte bei 80 °C gehalten werden. Nach erfolgtem Zulauf der Mischsäure wurde die Temperatur innerhalb von 20 Minuten auf 110-112 °C erhöht und 1,5 Stunden gehalten. Nachfolgend wurde dann die entsandene Reaktionslösung innerhalb von 2-3 Stunden auf 25-30 °C abgekühlt. Nach der Abkühlung scheidet sich die Pikrinsäure feinkristallin ab und wurde anschließend durch Zentrifugation oder Vakuumfiltration abgetrennt. Die so gewonnene Pikrinsäure wurde mit kaltem Wasser neutral gewaschen und abzentrifugiert, danach besaß sie noch einen Restwassergehalt von ca. 4 %. In Trockenhäusern wurde die Pikrinsäure in Portionen von 400 kg 24 Stunden bei einer Temperatur von 95-100 °C Restgetrocknet. Aus 750 kg Dinitrophenol werden 848 kg Pikrinsäure gewonnen. Die getrocknete Pikrinsäure wurde granuliert und in Kisten verpackt in Lagerhäuser transportiert wo das verpackte Granulat zwischengelagert wurde bis zur Verarbeitung im eigenen Werk oder zum Abtransport mit der Reichsbahn in andere Munitionsanstalten die selber kein Sprengstoff herrstellten.
Die Betriebsgruppe zur Herstellung von Pikrinsäure:
Pikrin-Nitrierhaus | -> | 352 bzw. 382 |
Pikrinsäure-Waschhaus | -> | 354 bzw. 384 |
Zwei Trockenhäuser | -> | 355/356 bzw. 385/386 |
Siebhaus | -> | 357 bzw. 387 |
Säurelager | -> | 360 bzw. 390 |
Es war beabsichtigt im Werk auch den hochbrisanten Sprengstoff Nitropenta herzustellen. Nachdem die Produktionsgebäude 100er Nummern (über 25 Stk.) nahezu alle fertiggestellt waren, wurde 1940 ein Baustopp verhängt und bis Kriegsende aufrechterhalten.Allerdings wurde Nitropenta im Werk angeliefert und verarbeitet.Während des 2. Weltkrieges wurde es als Initialsprengstoff in Sprengkapseln und Zündern eingesetzt.
Die Grundstoffe wurden in Güterwaggons und Kesselwagen bis zum werkseigenen Bahnhof Steinholz von der Reichsbahn angeliefert. Von da aus übernahmen aus Sicherheitsgründen feuerlose Dampflokomotiven den Transport bis ins Werksgelände.
Die Waggons wurden an mehreren Laderampen entladen und die angelieferten Produkte in verschiedene Lagerhäuser gebracht. Schüttgut wurde in Silos gelagert und die flüssigen Stoffen aus den Kesselwagen wurden durch ein weitverzweigtes Rohrsystem in verschiedene Kesselhäuser und unterirdische Tanks (z.B. Toluol-Lager 301 oder Säurelager 325) gepumpt.
Auf der 17 km langen Ringstrecke (Fremdlink ») mit Ausweichgleisen und Stichstrecken der Werksbahn durften wegen
Funkenflug und damit verbundener Explosionsgefahr bei normalen Dampfloks nur feuerlose Speicherloks fahren. Diese kleinen Loks hatten Überdruckkessel die an Füllstellen aus dem Werksdampfnetz befüllt wurden.Auf dem weitverzweigten Straßennetz innerhalb des Werks durften nur Elektrokarren fahren, diese übernahmen den Kleingüter- und Personentransport.
Ein sehr prägendes Element des Werks waren die auf Stahl- oder Betongerüsten (Abb. P1.4) kreuz und quer durch das gesamte Fabrikgelände laufenden Rohrstränge, teilweise waren bis zu zehn Rohre an diesen befestigt. Neben isolierten Dampfleitungen, Hochdruckdampfleitungen und weiß ummantelten Säureleitungen gab es Druckrohre mit aufgeschweißten Dampfleitungen. Diese Druckleitung verband z.B. die Gebäude der Tri-Herstellung. War in einem Gebäude der Prozeß beendet wurde das Zwischenprodukt durch diese Rohre zur nächsten Produktionsstufe gedrückt. Dieses „Abdrücken“ des Sprengstoffbreis war äußerst gefährlich, der ca. 80-90 Grad Celsius heiße Brei durfte nicht erkalten da dies zu einer Explosion des Sprengstoffbreies führte. Trotz dass die Rohre vorgeheizt wurden kam es im Winter immer wieder zu gefährlichen Situationen.
Nach der Fertigstellung der beiden Füllstationen und der Tri-Presserei konnte das TNT direkt im Werk weiterverarbeitet werden. In den Füllstationen wurde der Sprengstoff wieder verflüssigt und je nach Weiterverabeitungsart mit verschiedenen Zusatzstoffen versehen. Das heiße flüssige TNT wurde dann in Minen, Granaten und Bomben abgefüllt.
Die Sprengkörperrohlinge wurden in die Hüllenlager angeliefert, ausgepackt und auseinandergebaut.
Mit auf Schienen laufenden Handwagen wurden die Rohlinge zwischen den Gebäuden der Füllstation transportiert. In einem Heißluftkanal wurden die Rohlinge auf die Temperatur des flüssigen TNT erhitzt und im Gießhaus mit dem Sprengstoff gefüllt.
Eine Augenzeugin berichtet: „Ein riesengroßer Kessel, in dem der sog. „Tri“, flüssiger Sprengstoff, fast zum Kochen gebracht wurde, beherrschte den Raum. Dann wurde dieser heiße Tri in 5-Zentner-Bomben gegossen, in Tellerminen, Wurfgrananten oder was gerade hergestellt wurde. Ich war ein paarmal in der Füllstation, heißer Dampf, die Arbeiter sahen bespritzt aus, hatten große Schürzen an und rührten mit langen Stöcken in dieser Masse, damit sich beim Erkalten keine Blasen bildeten.“
Durch einen unterirdischen Kühlkanal schoben Arbeiter die Handwagen mit den jetzt befüllten Hüllen. Diese Kühlkanäle waren mit einer dicken Erdschicht bedeckt und verliefen gezackt. Da beim Abkühlen die Explosionsgefahr besonders hoch war sollte so ein übergreifen der Explosion auf die angrenzenden Gebäude verhindert werden.
Eine Arbeiterin berichtet: „Meine Halle 418 war ein großer rechteckiger Raum. Durch einen langen unterirdischen Kanal kamen von der Füllstation auf Schienen die Wagen mit den Bomben zu uns. Immer 6 Stück standen auf einem Wagen. Meine Aufgabe war es, den an der Bombenwand heruntergelaufenen Tri mit einem Spachtel abzukratzen. Dann mußten wir Mädchen die Schrauben für die Flügel der Bomben vordrehen, die Männer zogen sie dann mit Schraubenziehern fest. Dann wurden die Ringe für das Zündloch in Ölpapier eingepackt und oben an die Flügel gehängt. Bereits nach kurzer Zeit bekam ich kastanienfarbiges Haar, die Unterwäsche wurde rot; das kam von dem Tri-Staub.“
Bevor die Sprengkörper für den Transport verpackt wurden, überprüften sie Mitarbeiter der Heeresabnahmestelle oder der Marineabnahmestelle auf Produktionsmängel. Die Prüfstellen wurden jeweils von einem Offizier geleitet.
Die Arbeit in den Füllstationen gehörte zu den gefährlichsten im ganzen Werk. Zwischen April 1943 und März 1945 explodierte die Füllstelle Ost einmal, die Füllstelle West dreimal.
Eine Füllstation bestand ursprünglich aus folgenden Gebäuden:
Zwei Hüllenlager | -> | 408/410 |
Vorbereitungsgebäude | -> | 412 |
Gießhaus | -> | 414 |
Kühlkanal | -> | 416 |
Fertigungsgebäude | -> | 418 |
Im Gegensatz zu TNT (Tri) wurde Pikrinsäure vor der Verarbeitung nicht wieder verflüssigt, sondern als Granulat abgefüllt. Pikrinsäure diente als Treibmittel für Geschosse die aus Kartuschen abgeschossen wurden, wie z.B. Geschützmunition. In den auf dem Werksgelände verstreut liegenden Pressengebäuden wurde der Sprengstoff in Hülsen abgefüllt und anschließend unter hohem Druck verdichtet.
Die Pressengebäude bestanden aus zwei Teilen. Im ersten Teil des Gebäudes wurde das Pikrin genaustens abgewogen, da eine Überfüllung eine Explosion beim Pressvorgang nach sich gezogen hätte, und dann von Hand in die Hülsen gefüllt. Die gefüllten Kartuschen wurden anschließend auf einen Wagen gestellt und in den zweiten Teil des Gebäudes gefahren.Der erste und zweite Teil des Gebäudes war durch eine dicke Stahlbetonwand voneinander getrennt. Im zweiten Teil des Gebäudes befanden sich mehrere Pressen die in wiederrum durch massive Stahlbetonwände getrennten Räumen standen, die Pressen wurden durch kleine Stahltüren beschickt die sich automatisch beim Pressvorgang schloßen. Die Pressen verdichteten das Pikrin gleichzeitig in 12 bzw. 24 Kartuschen bei einem Druck von 100 bzw. 120 atü. Die Pressräume waren so konstruiert das die häufig vorkommenden Selbstentzündungen keinen Schaden anrichten konnten, z.B. war eine Außenwand nur mit leichten Brettern verkleidet.
Fast jedem Pressengebäude war ein Fertigmachungsgebäude zugeordnet, in denen die gepreßten Kartuschen mit Geschossen versehen wurden.Auch diese Munition mußte erst geprüft werden, bevor sie verpackt und verschickt werden konnte.
Im Werk Hess. Lichtenau wurde Nitropenta aus anderen Werken der Verwert-Chemie verarbeitet. Nitropenta diente in erster Linie der Herstellung von Zündladungen und ist ein hochbrisanter Sprengstoff. Mit Sprengkabseln versehene Aluminiumhülsen wurden von Hand mit Nitropenta befüllt, gebörtelt und anschließend verpreßt. Hierzu dienten die Pressengebäude mit den 300er Nummern im westlichen Teil des Werksgeländes. Alleine im August 1944 wurden 950.000 große Zündladungen in Hess. Lichtenau gefertigt.
Am 17.03.1941 zerstörte eine Explosion ein Nitropenta-Zwischenlager vollständig. Anstelle des Gebäudes (Nr. 370) gähnte ein tiefer Krater, von den 15 Arbeitern konnte keine Spur mehr gefunden werden.
Der abschließende Bericht des Rüstungskommandos Kassel stellte fest: „Die Bauweise, sowie die räumliche Entfernung der einzelnen Fertigungsstätten hat sich insofern bewährt, als größere Zerstörungen umliegender Fabrikationsgebäude vermieden wurden.“
Die Fabrik Hess. Lichtenau war die umweltschädlichste der 27 Sprengstoffwerke der Verwert-Chemie. Erst nach zähen Verhandlungen, Einholen von Gutachten und Befragung staatlicher Stellen (Reichnähramt, Fischereiamt, Reichsamt für Wasser- und Luftgüte) war die Verwert-Chemie und damit die D.A.G. bereit Entschädigungen zu zahlen.
Folgende Summen wurden bezahlt:
1941/42 | -> | 260 731.- RM |
1942/43 | -> | 128 190.-RM |
1943/44 | -> | Keine Angaben |
1944/45 | -> | 81 182.- RM |
Während der gesamten Produktionszeit spielte die Abwasserproblematik eine untergeordnete Rolle. Während der Ausbau der Produktion und damit der Bau eines Bunkers nach dem anderen vorrangetrieben wurde, entstand die Kläranlage erst drei Jahre nach Anlauf der Produktion. Dies bedeutet das drei Jahre lang sämtliche Abwässer des Werks fast ungeklärt in die Losse und ab 1941 teilweise direkt in die Fulda geleitet wurden. Die extrem saueren Abwässer waren mit Nitroverbindungen verunreinigt die bei der Herstellung von Trinitrotolul (TNT), Trinitrophenol (Pikrin) und bei der Schwefelsäurekonzentration entstanden.
Eine Augenzeugin berichtet: „Oft war das Wasser der Losse rot eingefärbt, manchmal mehrmals am Tag für Stunden. Da wußten wir in Helsa das sie in der „Mohrenkopf-Fabrik“ wieder Abwasser ablassen. Einmal ist ein Rohr zwischen Waldhof und Helsa gebrochen und rotes Wasser floss den Abhang hinunter, im nächsten Jahr wuchs noch nicht mal Grass an diesem Hang.“
Die Abwasserbeseitigung auf dem Werksgelände war sehr schwierig. Alle „Waschwässer“ mußten in getrennte Kanäle abgeleitet werden, denn ein mischen konnte zu Explosionen führen. Trotzdem kam es mehrmals zu Explosionen die Teile desKanalnetzes zerstörten.
Ein Teil des Abwassers aus den Waschhäusern (Abb. P2.1, gesprengter Eingang) wurde in Absetzbecken, sogenannten Schikanen (Abb. P2.2) vorgefilter, bevor es in die Kanalisation abgeleitet wurde.
Auch die Mitte 1941 in Betrieb genommene Neutralisation (Kläranlage) konnte das Abwasserproblem nicht lösen. In mehreren Gebäuden und Becken wurde versucht mittels Ätzkalk die sauren und giftigen Abwässer zu neutralisieren. Der eingesetzte Kalk wurde aus den Abscheidebecken als Gipsschlamm ausgefiltert und auf der sogenannten Tri-Halde gelagert. Bei plötzlich steigenden Abwassermengen mußten jedoch die Schieber geöffnet werden und die „Brühe“ gelangte wieder vollkommen ungefiltert in die Losse, aber selbst im Normalzustand arbeitete die Anlage nur unzureichend.
Zur Geheimhaltung war schon der offizelle Name der Sprengstofffabrik so harmlos wie möglich gewählt, Fabrik Hessisch Lichtenau zu Verwertung chemischer Erzeugnisse. Für den inoffiziellen Schriftverkehr bekam die Sprengstofffabrik den Tarnnamen Friedland, die beschlagnahmte Fabrik in Eschenstruth den Tarnnamen Esche. In der Bevölkerung bürgerte sich das Wort Mohrenkopffabrik für das Werk ein.
Die Beschäftigten wurden unter Androhung von Strafen verpflichtet Stillschweigen zu wahren. In der Bevölkerung wurde die Angst vor Repressalien geschürt, um diese davon abzuhalten Wissen und Vermutungen auszutauschen.
Die Nordhessische Landschaft bot beste Vorraussetzungen für die Tarnung der Fabrik. Der dichte Waldbestand sollte die Anlage verstecken. Die Verkehrswege wurden wenn möglich auf vorhandenen Waldwegen und Schneisen angelegt. Mehrfachgleise und Kühlteich konnten mit Tarnnetzen überzogen werden. Die Bunker waren meist einstöckig und oft teilweise in die Erde eingelassen. Die Flachdächer wurden mit einer 50 bis 80 Zentimeter starken Erdaufschüttung versehen und bepflanzt. Später gebaute Bunker verfügen über gezackte Dachkanten (Abb. P2.3) um die Gebäudeumrisse schwerer aus der Luft erkennbar zu machen.
In regelmässigen Abständen wurde das Werk von einer Fiesler Storch überflogen um die Tarnung aus der Luft zu kontrollieren. Siebzig Gärtner und Anfangs unzählige Arbeitsdienstverpflichtete Männer und Frauen, später Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter waren mit den Tarnmaßnahmen beschäftigt.
Den sonst bis ins Detail ausgeklügelten Tarnungsmaßnahmen stand der Bau der mehrgeschossigen Gebäude der Säurespaltanlage mit ihrem 40 Meter hohen Schornsteines auf dem Werksgelände gegenüber.
Um so länger die Produktion lief um so grösser wurden die Probleme die Tarnung perfekt zu halten. Durch die Produktions-Erweiterungen notwendige Baumaßnahmen, aber auch durch bei Explosionen zerstörte Gebäude die wiederaufgebaut werden mußten wurde das Tarnbild des Werks nachhaltig gestört. Besonders gravierend waren auch die Umweltschäden die mit der Zeit sehr stark voranschritten. Besonders die Abgase aus dem Schornstein der Säurespaltanlage (Abb. P2.4) die bei ungünstiger Wetterlage Teile des Werks in einen braunen Dunst hüllten, bewirkten das Bäume und Sträucher ihre Blätter verloren und zum Teil ganz abstarben.
Durch Planung sollten die materiellen Schäden einer Explosion so gering wie möglich gehalten werden. Die mit leichten Bimssteinen ausgemauerten Betonrahmenbauten, sollte gewährleisten das bei „kleineren“ Detonationen der Druck durch herausfliegen der Wände schnell abgebaut wird. Bunker die besonders explosionsgefährdet waren, wurden entweder unterirdisch angelegt oder mit hohen Erdwällen umgeben.
Gebäude die der direkten Sprengstoffherstellung dienten sollten mindestens 50 Meter voneinander entfernt sein und eine Grundfläche von nicht mehr wie 300-600 m² haben.Zum Schutz vor Blitzschlag war das Gelände mit Tausenden von Blitzableitern übersät.Das Werkzeug der Betriebshandwerker war aus Bronze um jede Funkenbildung zu vermeiden.
Natürlich war es allen Beschäftigten strengstens verboten Zigaretten, Streichhölzer, Feuerzeuge, Ringe, Metallschmuck u.ä. mit ins Werk zu nehmen.Die Arbeiter mußten Plaketten an der Brust tragen an der man erkennen konnte in welcher Abteilung/Zone sie beschäftigt waren. Diese Zone durften sie nur in den Pausen zu den Sozialgebäuden und auf dem Weg von und zu ihrer Arbeit verlassen, die Wege dafür waren genau vorgeschrieben.
Das gesamte Werksgelände war von einem hohen Zaun mit Stracheldraht umgeben und Wachposten patrolierten diesen ab. Der Zugang zum Werk war nur an einigen wenigen Eingängen möglich. Hervorzuheben sind der Haupteingang bein Verwaltungsgebäude mit dem Großen Wendeplatz für Busse, die sogenannten „Langen Hessen“ transportierten Arbeiter aus umliegenden Dörfern zum Werk. Viele Arbeiter aus denn näher liegenden Dörfern und Barrackenlagern erreichten das Werk zu Fuss.
Arbeiter aus Helsa, Eschenstruth und dem neu errichteten Lager Waldhof kamen durch das Waldhof-Tor (Abb. 3.1) ins Werk.
An den Eingängen bekamen die Arbeiter nach Unterschrift eine Kennkarte ausgehändigt die ständig sichtbar getragen werdenmußte. Anhand dieser Kennkarte konnte der Werksschutz erkennen wo der jeweilige Arbeiter seinen Arbeitzplatz hatte und welchen Weg von und zu diesem er benutzen durfte. Das verlassen des Arbeitsplatzes war nur zu den Pausen erlaubt wo die Arbeiter auf festgelegten Wegen zu den Sozialgebäuden gingen.Nur wenige Leute hatten einen Überblick über das ganze Werksgelände mit seinen Produktionsanlagen.
Alle Arbeiter waren unter Strafandrohung zum Stillschweigen über ihre Arbeit und das Werk verpflichtet. Auch den Bewohnern der umliegenden Dörfer wurde mit schweren Repressalien gedroht für den Fall dass das Sprengstoffwerk ein allzu öffentliches Thema sein sollte.
In der näheren Umgebung des Werks wurden mehrere Lager (Übersicht Abb. 3.2) zur Unterbringung der Freiwiligen, Dienstverpflichteten aus den besetzten Gebieten kommende Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und ab 1944 KZ-Häftlinge erbaut. Im Verlauf des Krieges als immer mehr Männer zum Wehrdienst eingezogen wurden, stieg der Anteil der in der Produktion beschäftigten Frauen und die Zahl der im besetzten Ausland dienstverpflichteten Arbeiter, auch der Anteil von Kriegsgefangen und KZ-Häftlingen stieg stark an. Entgegen der ursprünglichen Anweisung Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge nicht in wichtigen, zentralen Rüstungsbetrieben einzusetzen, wurde dies durch den enorm gestiegenen Bedarf der Wehrmacht an Rüstungsgütern und der gleichzeitig sinkenden Arbeitskräftezahl unumgänglich.
Die Unterbringungsarten waren sehr verschieden. So erhielten deutsche freiwillige und dienstverpflichtete Arbeiter eine für diedamalige Zeit gute Lager-Unterkunft. Auch die Freiwilligen und Dienstverplichteten aus den besetzten Westgebieten wie Frankreich, Belgien und Holland hatten aktzeptable Unterkünfte und erhielten zumindest in den ersten Jahren auch Heimaturlaub. Die Unterbringung der Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen aus den östlichen Gebieten war getreu der damals herrschenden Ideologie vom „Untermenschen“ im Osten unzureichend im Verlauf des Krieges immer schlechter werdend. In den letzten Kriegsmonaten wurde ein Teil des Lagers Vereinshaus abgeteilt und ungarische Jüdinnen darin untergebracht. Das gesamte Lager Vereinshaus war ursprünglich für 700 Personen vorgesehen, die jetzt in einem Teil davon untergebrachten 1000 Jüdinnen lebten darin unter katastrophalen Bedingungen.
Lager Vereinshaus
Zehn Wohnbaracken, zwei Küchenbaracken, zwei Waschbaracken, drei Abortbaracken, sechs Lagerbaracken. Geplant für 700 Personen, Ende 1944 mit 1000 Ost-Arbeitern + 1000 KZ-Häftlingen (abgetrennt) belegt.
Lager Föhren
Sieben Wohnbaracken (1942), eine Küchenbaracke, zwei Waschbaracken, zwei Abortbaracken. Geplant für 1000 Personen wurde das Lager 1942 verkleinert und 500 Ukrainerinnen darin untergebracht.
Lager Falkenhorst
Fünf Steinbaracken, das Lager wurde nie richtig fertiggestellt, darin Untergebracht waren ca.200 Wehrmachtsangehörige.Lager EscheGeplant für 1000 Personen. Anfangs deutsche Baurbeiter, dann deutsche Arbeiterinnen, Ukrainerinnen und zuletzt russische Arbeiter.
Lager Teichhof
22 Wohnbaracken, eine Wirtsachaftsbaracke, eine Verwaltungsbaracke, eine Krankenrevier, eine Kantinenbaracke, eine Wohnung für den Lagerverwalter, zwei Gerätebaracken, eine Wache und vier Abortbaracken. Geplant für 850 Personen belegt mit ca. 1000 Personen.
Lager Friedrichsbrück
Fünf Wohnbaracken, eine Küchenbaracke, eine Waschbaracke, zwei Abortbaracken und einen Brennholzschuppen. Geplant und Untergebracht ca. 350 Bauarbeiter.
Lager Waldhof
Das Lager Waldhof unterschied sich von den anderen Lagern durch die sorgfältige Planung und Ausführung. Die hufeisenförmig angeordneten Häuser hatten Ziegelgedeckte Satteldächer, waren massiv gemauert und hatten sogar Fachwerkimitat an den Giebelwänden. 50 Wohnhäuser, ein Sanitätshaus, ein Gemeinschaftshaus mit Kantine, Wasch- und Baderäumen, Friseur und einer Wäscherei. Geplant für 1500 Personen, Anfangs nur mit deutschen Arbeiterinnen und später auch mit Arbeiterinnen aus westlichen Staaten belegt.
Lager Herzog
22 Wohnbaracken, eine Kurzzeit-Unterkunftsbaracke, ein Gemeinschaftsgebäude, eine Großkantine für über 1500 Personen, ein Sanitätsgebäude, ein Bade- und Wäschereigebäude, ein Vorratsgebäude, eine Fahrradbaracke, ein Heizgebäude, ein Wohnhaus für die Lagerverwaltung, ein Strohschuppen und sechs Luftschutzkeller. Geplant für 1000 Personen zum Teil mit bis zu 1200 Arbeitern belegt. Anfangs nur von deutschen Arbeitern bewohnt, später auch von Arbeitern aus westlichen Staaten und einigen polnischen Arbeitern bewohnt.
Lager Lenoir
Ein ehemaliges Waisenhaus gestiftet von den Gebr. Lenoir, bestehend aus drei großen Steinhäusern. Ein Gebäude wurde von männlichen Werksangestellten bewohnt, ein zweites von weiblichen Angestellten und das dritte Gebäude diente als Werkslazerett.
Lager Steinbach
Sechs Wohnbaracken, eine Gemeinschaftsbaracke, eine Sanitäts- und Wäschereibaracke, ein Badehaus, ein Waschhaus, ein Haus für den Lagerleiter, eine materialbaracke, eine Kantinenbaracke und eine Abortbaracke. Belegt von ca. 300 Arbeitskräften die in der beschlagnahmten Hansa Schwerweberei Spezialmaschinen und Werkzeug fertigten.
Siedlung Fürstenhagen
Die Siedlung Fürstenhagen diente zur Unterbringung leitender Angestellten und der Werksführung. 15 dreistöckige Steingebäude mit Wohnungen für Angestellte mit Familie, vier Häuser für die Werksführung und ein Wohnheim für ledige Angestellte.
Zu Beginn der Bauarbeiten am Werk Hess. Lichtenau wurden im ganzem deutschen Reichsgebiet Männer dienstverpflichtet. Die Dienstverpflichtung geschah meist ohne Rücksicht auf die Situation des einzelnen und wurde wenn nötig mit Zwang von den zuständigen Stellen wie Arbeitsamt und Deutsche Arbeitsfront (DAF) durchgeführt.
Schon Ende 1938 wurde die Verordnung zur Sicherstellung des Kräftebedarfs für Aufgaben von besonderer staatspolitischer Bedeutung kurz Notdienst-Verordnung, man könnte auch sagen Zwangsarbeitsgesetz, auch auf Frauen ausgedehnt.
Die Dienstverpflichteten hatten eine Arbeitszeit von 10 Stunden und erhielten 66 Pfennig (Männer) bzw. 41 Pfennig (Frauen) als Lohn wobei die in den Lagern untergebrachten noch ca. die Hälfte vom Lohn für Unterkunft und Verpflegung an das Werk zurückzahlen mußten.
In den besetzten Gebieten wurden Kampagnen gestartet um Arbeitskräfte in die Rüstungsbetrieb im deutschen Kernland zu locken. Im Laufe des Krieges wurde aus diesen „Anwerbungen“ in den Ostgebieten immer mehr eine offene Treibjagd auf Arbeitskräfte.
Die Unterbringung, Verpflegung und medizinische Versorgung der Zwangsarbeiter aus den Ostgebieten und da besonders die der russischen Arbeiter war um einiges schlechter wie die der anderen Arbeiter. Gab es in dem (sehr) vorbildlichen Lagern Waldhof (deutsche und franz. Arbeiterinnen) und Herzog (deutsche Arbeiter) neben Wasch- auch Baderäume, wöchentliche Kino- oder Varitee Vorstellungen, Ausgang bis 22:00 Uhr so waren die Bedingungen in den streng Bewachten Lagern der russischen- und ukrainischen Arbeiter trist fast erbärmlich. Auch die Kleidung der Zwangsarbeiterinnen aus den Ostgebieten war oft sehr unzureichend, so hatten viele Frauen Sommer wie Winters nur Holzpantienen an den Füßen, die Füße zum Schutz vor Kälte mit Lumpen umwickelt. Die ukrainischen Zwangsarbeiterinnen waren die jüngsten im Werk Hess. Lichtenau, die meisten unter 20 Jahren, manche noch halbe Kinder erst 15 oder 16 Jahre alt.
Die Lage der ab 1944 eingesetzten KZ-Hätlingen aus Buchenwald, vorwiegend ungarische Jüdinnen, mochte zwar im Vergleich zum KZ Buchenwald selbst hinsichtlich Unterbrinung und Verpflegung etwas besser gewesen sein, aber immer noch vollkommen unmenschlich. Die Verpflegung war nochmals um einiges schlechter wie bei den russischen Zwangsarbeitern und Krankheit oder Schwäche bedeutete die Rückführung nach Buchenwald zur „Vernichtung“. Es gibt Berichte (auch von deutscher Seite) darüber das die zur Bewachung der KZ-Außenstelle eingesetzte SS-Manschaft oft ein sadistisches Verhalten gegenüber den Frauen an den Tag legte, so kam es vor das die Häftlinge nach ihrem 10 – 12 Stunden Arbeitstag und dem Rückmarsch noch stundenlang auf dem Lagerplatz bei Wind und Wetter strammstehen mussten.
Es ist zwar erwiesen das gerade die Arbeiter aus den ehem. Ostgebieten zu besonders gefährlichen Arbeiten eingeteilt wurden, wie z.B. das schieben der mit Granaten beladenen Handwagen durch die Kühlkanäle, oder das Umrühren des Sprengstoffbreis in den Nitieranlagen, aber auch die deutschen Arbeiter waren den Gesundheitsgefahren ausgesetzt. Besonders in sensiblen Bereichen sollten wenn möglich deutsche Arbeiter eingesetzt werden.
Eine Zeitzeugin berichtet: „Wir wohnten in der Nähe der Sprengstofffabrik und meine Schwestern und ich wurden dienstverpflichtet, ich hatte Glück und kam in eine Weberei die Fallschirme und Zeltplanen herstellte, eine meiner Schwestern jedoch mußte in der Sprengstofffabrik arbeiten. Als sie schwanger war meldete sie dies nicht, obwohl die deutschen Frauen dazu angehalten waren. Das Kind war bei der Geburt ganz schwach und gelb, es starb nach einem Tag weil es keine Luft bekam.“
Viele Arbeiter die in direkten Kontakt mit dem Sprengstoff oder seinen Zwischenprodukten standen, bekamen mit der Zeit durch Pigmentverfärbungen kastanienrote- oder gelbfarbene Haare und bronzefarbene Haut, dieses führte zu den Spitznamen Kanarienvögel und Goldköpfchen, viele der Arbeiter fanden die so „eingefärbten“ Frauen sehr attraktiv. Bei längeren oder intensiven Kontakt mit den Sprengstoffen führte die Vergiftung zu Leberschäden und Leukämie die oft tödlich endeten. Das Einatmen der Dämpfe beim Umrühren des Sprengstoffbreis und der Säuredämpfe in den Spaltanlagen führte oft zu irreperablen Lungenschäden.
Bei einem so großem Werk und denn vielen zusätzlichen Bauarbeitern die unaufhörlich das Werk erweiterten oder reparierten, war natürlich eine hohe Zahl an „normalen“ Arbeitsunfällen wie Quetschungen, Schnitte und Brüchen fast unvermeidbar, diese stieg aber stark an im Laufe der Kriegsjahre. Ausgelöst wurde dieser Anstieg der Unfälle durch immer höhere Anforderungen an die Produktions- und Bauarbeiter, gesteigerte Produktion bei gleichzeitig gesenkten Sicherheitsmaßnahmen und nicht zu vergessen der schwindenden Anzahl von Fachkräften die an die Front mußten.
Datum | Tote | Verletzte | Nr. Funktion | Schaden |
06.09.1938 | 11 | k.A. | 305 Nitrierhaus | k.A. |
22.10.1940 | 5 | 4 | Tri-Station | Vergiftung |
17.03.1941 | 17 | k.A. | 370 Fertigung Zündanlagen | k.A. |
07.05.1941 | – | 1 | TNT-Nitrierhaus | 4% Produktionsausfall |
07.05.1941 | – | k.A. | Fabrik Eschenstruth | Feuer |
04.08.1941 | – | 2. | 337 Nitrieranlage | 60 000 RM Schaden |
25.05.1943 | 15 | 53 | 412/414 Füllstation Ost | Explosion 150 000 RM Schaden |
10.04.1943 | 63 | k.A. | 413/415 Füllstelle II West | Explosion 1,25 Mill. RM Schaden |
02.06.1944 | k.A. | k.A. | Säure-Spaltanlage | Verpuffung, 2600 Tonnen Oleum Ausfall |
14.08.1944 | 1 | 2 | 352 Pikrin-Nitrierhaus | 150 000 RM Schaden |
25.02.1945 | 1 | k.A. | k.A. | k.A. |
31.03.1945 | 13 | k.A. | 413/415/417 Füllstelle II West | k.A. |
Die Folgen der heute noch nachweisbaren Unfälle und Explosionen im Werk Hess. Lichtenau.
Die wahrscheinlich einzige erhaltene Originalkarte. Es handelt sich um eine Karte aus der Planungsphase auf der einige später gebaute Gebäude wie der Kohlehochbunker nachgetragen wurden. Allerdings sind durch Änderungen während der Aufbauphase einige Gebäude nicht eingezeichnet.
Über die Grundlagen der Sprengstoffherstellung schreibt T. Urbanski in seiner weithin anerkannten Buchreihe Chemistry and Technology of Explosives, Band 1 / 1964.